Vignetten

Diskussionen über die Abenteuer und Hintergründe der Simyala-Kampagne.
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Die letzte Hjaldingerin
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Vignetten

Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 03.02.2014, 10:08

phil (webmaster) hat geschrieben:Lasst uns, dem Vorschlag der letzten Hjaldingerin folgend, eine Vignetten-Sammlung beginnen! Bitte postet jede Szene in einem neuen Beitrag, dann füge ich sie dem Inhaltsverzeichnis am Ende dieses Beitrags hinzu.

Philipp
Hallo,

wie sieht es denn mit Simyala-verwandten Vignetten aus? Am Wochenende habe ich alte DSA-Unterlagen aussortiert und bin dabei auf diverse Entwürfe aus meinem Ich-schreibe-einen-Svegan-Roman-Projekt gestoßen. (Ich betreue Svegan und Beorns Ottajasko im Thorwal-Briefspiel.) Aus diesem Roman wird vermutlich nie was werden, jedenfalls nicht in der Form, die mir damals vorschwebte. Aber ich habe festgestellt, daß mir einige Szenen immer noch gut gefallen und suche nun ein Zuhause für sie.
Anbieten könnte ich in Sachen Simyala ein paar Szenen aus Beorns Gefangenschaft sowie seine Aktion im direkten Anschluß an "Namenlose Dämmerung".


Übersicht über die gesammelten Vignetten

Letztes Update:10.02.2014
  • Die kluge Wahl (Szene 1 einer vielfältig einsetzbaren Sammlung von Roman-Fragmenten zu Beorns Geschichte, Himmelsturm / Ryl'Arc, ca. HES 1009 BF)
  • Diener des Namenlosen (Szene 2 einer vielfältig einsetzbaren Sammlung von Roman-Fragmenten zu Beorns Geschichte, Gareth, Ende Praios 1023 BF, im Anschluss an "Namenlose Dämmerung")
  • Das erste Opfer (Szene 3 einer vielfältig einsetzbaren Sammlung von Roman-Fragmenten zu Beorns Geschichte, Himmelsturm / Ryl'Arc)
  • Das zweite Opfer (Szene 4 einer vielfältig einsetzbaren Sammlung von Roman-Fragmenten zu Beorns Geschichte, Himmelsturm / Ryl'Arc, nachdem Beorn sich dem Namenlosen verschrieben hat)
  • Heimat (Szene 5 einer vielfältig einsetzbaren Sammlung von Roman-Fragmenten zu Beorns Geschichte, Himmelsturm / Ryl'Arc)
  • Die Beorn-Saga (zwei Fragmente aus einem Skaldensang über Beorn, nach Ende der Kampagne)

phil
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Beitrag von phil » 03.02.2014, 11:14

Hallo,

eine sehr schöne Idee - danke fürs Anstoßen! Dann kommt hier auch mal ein bisschen Leben rein :-). Ich habe den Thread gleich mal angepinnt, also immer her mit euren Ideen.

@Letzte Hjaldingerin, das klingt spannend - bin gespannt auf deine Szenen :-).

Lieben Gruß
Philipp

Die letzte Hjaldingerin
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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:36

Dann starte ich mal.

Wie geschrieben, handelt es sich nicht um spieltechnisch aufbereitete Texte, somit sind sie länger als die durchschnittliche Vignette, aber vielleicht kann ja jemand etwas daraus basteln – oder sie ganz einfach als Inspiration benutzen. Der jeweilige Zeitpunkt ist in den meisten Fällen vage, irgendwann zwischen der Schlacht am Rabenpass, Namenlose Tage 1008 BF, und dem Beginn der Kampagne. Wenn es konkreter ist, weise ich darauf hin.

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Szene 1: Die kluge Wahl
Ort und Zeit: Himmelsturm / Ryl’Arc, ca. HES 1009 BF

Nahezu lautlos schwang die Tür auf, zerschmetterte seinen fragilen Dämmertraum wie Kristall. Tagelang hatten sie ihn in Ruhe gelassen; fast hatte er sich erlaubt zu hoffen, sie hätte das Interesse an ihm verloren. Aber nein – diesmal war sie selbst gekommen, um ihn zu holen.
"Komm, mein Freund", sagte sie. "Begleite mich ein Stück."
Mühsam raffte er sich auf. Er hatte kaum ein Gefühl in seinen Gliedmaßen, doch eher wollte er sterben als sie seine Schwäche sehen zu lassen.
Entlang der kristallenen Gänge, über denen schwarz und tödlich das Eismeer wogte, gingen sie. Pardona schritt langsam, als wollte sie Rücksicht auf ihn nehmen. Doch die Zeiten waren lange vorbei, in denen er geglaubt hatte, es mit einer Frau zu tun zu haben – einer Elfenhexe zwar, aber immerhin aus Fleisch und Blut. Sie hatte ihn schnell eines besseren belehrt. Wie lange war das her?"
"Zwei Jahrläufe“, sagte sie, wie eine Antwort auf seine Gedanken. „Vor wenig mehr als zwei Jahrläufen sind wir uns zum ersten Mal begegnet, mein Freund. Ein Augenschlag im Atem der Welt.“
Fast vier Winter also für ihn; sein Aufenthalt auf den Inseln im Nebel hatte sein Zeitgefüge tüchtig durcheinandergebracht. Das bedeutete auch, dass er seit, was? Einem halbem Jahr? Seit einem halben Jahr hier festsaß. Götter. Es kam ihm länger vor.
„Ein Augenschlag im Atem der Welt“, wiederholte sie sinnend, „doch nicht für euereins. Soweit ich gelernt habe, zählt die Lebensspanne von euch kurzlebigen Kreaturen weniger als zehn Jahrzehnte. Wie erschreckend.“
„Ein Leben lässt sich nicht an seiner Länge messen“, erwiderte er schroff. „Ein Mensch mag zwanzig Winter werden und diese Zeit reich verwenden. Ein Elf oder Zwerg kann dreihundert Winter werden und in dieser Zeit nichts von Wert tun. In sich selbst ist ein Leben bedeutungslos. Wir füllen es mit Bedeutung.“
„Schön gesagt, mein Freund.“ Sie nickte, ohne ihn anzusehen. „Natürlich ist das alles, was euch an Trost bleibt, und natürlich liegt ‚Bedeutung’ im Auge des Betrachters. Doch verrate mir: Wie blickst du auf dein Leben zurück? Hast du deine Zeit reich verwendet?“
„Ich glaube schon." Er lächelte schmal. „Wozu die Frage? Führst du mich zu meiner Hinrichtung und traust dich nicht, es mir ins Gesicht zu sagen?“
Nun blieb sie stehen und blickte ihn an. Wie stets war es unmöglich, ihre Gefühle zu erraten; vorausgesetzt, sie kannte diese zutiefst menschliche Regung überhaupt. Ihr vollkommenes Antlitz unter dem silbernen Wasserfall ihrer Haare verriet nichts. Wahrscheinlich war sie das schönste Geschöpf, das sich auf dieser Welt finden ließ. Aber Beorn war längst immun gegen ihre underische Schönheit geworden, denn er wusste, dass sich dahinter eine Grausamkeit verbarg, die sich mit Hranngar messen konnte.
„Diese Wahl hast du doch abgelehnt, mein Freund“, erinnerte sie ihn sanft. „Zweimal hattest du die Gelegenheit. Zweimal hast du sie nicht ergriffen. Die Länge deines Lebens zählt eben doch mehr für dich als seine Bedeutung.“
Ihre Worte trafen tief.
„Sieh“, forderte sie ihn auf. Sie wandte sich um zu dem stummen Wächter, der sie begleitete, eine ihrer schauerlichen Kreaturen, ein Ungetüm mit Hummerscheren statt Armen, dessen Gesicht noch immer die Spuren seines früheren elfischen Selbst trug. „Er und all die anderen schätzten wie du das Leben in seiner Länge. Erst dann, so glaubten sie, könnten sie es mit Bedeutung füllen.“
Beorn kannte die Geschichte der Himmelsturm-Elfen. „Sie folgten dir und wurden so dafür belohnt“, sagte er kalt. „Was willst du mir damit beweisen?“
„Dass wir uns ähnlicher sind als du es offenbar wahrhaben willst“, gab sie zurück. „Alles, was du mir in deiner kindischen Empörung vorwirfst, ist nur ein Spiegelbild deiner selbst. Ich habe mein Volk verraten? Deine Leute folgten dir, und wie wurden sie dafür belohnt? Mit Verrat, Tod und Gefangenschaft. Sie werden durch deine Entscheidung enden wie mein Volk durch meine Entscheidung. Belüg dich nicht, mein Freund. Du bist weder der Held noch das Opfer dieser Geschichte, sondern ihr williger Täter.“
Jedes ihrer Worte war ein eisiger, gnadenloser Schwertstreich, der bis auf die Knochen schnitt. Beorn biss sich so hart auf die Lippen, dass er Blut schmeckte. Pardona trat an ihn heran und legte, kaum spürbar, ihre Hand auf seine Brust. „So will ich dich haben“, flüsterte sie, ein klirrend kalter Hauch. „Deiner Selbstgerechtigkeit entblößt, sehend für deine Taten. Es wird dauern.“ Ohne Eile machte sie wieder einen Schritt zurück. „Dein sogenannter Stolz richtet die Mauern deiner Blindheit schnell wieder auf. Aber es werden Risse bleiben, jedes Mal ein wenig mehr. Und eines Tages wird die Mauer stürzen. Dann… dann gehörst du mir, Beorn, Leib und Seele.“
In diesem einen, fürchterlichen Moment der Klarheit wusste er, dass sie recht hatte, dass es genauso kommen würde. Wenn er blieb, wenn ihn die Götter nicht aus ihren Fängen befreiten, würde er ihr eines Tages dienen, sie aus freien Stücken Herrin nennen, wie sie es verlangt hatte. Weil es die kluge Wahl war und er immer die kluge Wahl getroffen hatte, die seine Haut rettete.
„Sei verflucht, Hexe!“ knirschte er.
Sie lachte silberhell. „Gräme dich nicht, mein Freund“, neckte sie ihn. „Sei dankbar, dass ich dir diese Entscheidung lasse.“ Sie deutete auf den Wächter, der mit stumpfem Blick dastand, nicht begreifend, nicht einmal denkend. „Das könnte ich aus dir machen, aber es wäre Verschwendung. Du besitzt einen wachen Verstand, Einfallsreichtum, das Geschick, dir fast jede Lage zunutze zu machen. All diese Qualitäten würde ich zerstören, wenn ich sie doch stattdessen, in die richtigen Bahnen gelenkt, in den Dienst des Herrn stellen kann.“
Das war wohl die grässlichste Vorstellung von allen.
„Glaub nicht, dass du mir schmeicheln kannst“, spie Beorn ihr entgegen, aber seiner Wut fehlte die Kraft; zu dicht scharrte unter ihr entsetzliche Angst.
„Versuche ich dir zu schmeicheln?“ Ihr Lächeln jagte ihm einen Schauder über den Rücken. „Das habe ich nicht nötig. Du hast dich mir verkauft, somit kann ich mit dir tun, was ich möchte.“ Mit den Fingerkuppen wischte sie das Blut von seinen Lippen. „Noch ist dein Ungehorsam nicht genug bestraft, mein Freund, mein Sklave“, verhieß sie ruhig. „Zuerst das. Dann, in vier oder fünf deiner kurzen Menschenjahre, können wir damit beginnen, dich auf deine Initiation in den Dienst des Herrn vorzubereiten.“

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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:40

Szene 2: Diener des Namenlosen
Ort und Zeit: Gareth, Ende Praios 1023 BF, im Anschluss an „Namenlose Dämmerung“.

Die Schenke war ein nichtssagender Ort in einem nichtssagenden Viertel von Gareth. Eine ausgetretene Steintreppe führte hinunter in ein Kellergewölbe, das von lautem Stimmengewirr, Rauch und dem Geruch von Bier und Holzfeuer erfüllt war. Die Decke war so niedrig, dass ein jeder auch nur halbwegs hochgewachsene Besucher unwillkürlich den Kopf einzog. Charaktere aller Professionen aus allen Ecken Aventuriens gingen hier ein und aus; niemand schenkte dem anderen sonderliche Aufmerksamkeit, und unter der bunten Schar der Gäste wäre es auch fast schon eine Kunst gewesen, derart aufzufallen, dass man Aufmerksamkeit erregte. Kurzum: Es war der ideale Treffpunkt für jene, die nicht gesehen werden wollten.
Oder wäre es gewesen, dachte der Gesandte grimmig, während er, einen Fuß gegen die Tischkante gestützt, auf den hinteren Beinen seines Stuhles lehnte. Die Nachricht zum Ende des vergangenen Jahres war deutlich gewesen. Wenn Nordegg bis heute nicht aufgetaucht war, würde er es auch nicht mehr tun. Er war gescheitert.
Und zwar so sehr, dass er für sein Scheitern in dieser Welt keine Verantwortung mehr übernehmen musste. Der glückliche Hund.
Finster ließ der Gesandte seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Schankmagd wich ihm bebend vor Angst aus und wagte sich nur in seine Nähe, wenn er sie ausdrücklich dazu aufforderte. Wertloses, schwaches Ding.
Drei Tische von ihm entfernt saßen die beiden Thorwaler, deren Gespräch er seit ihrem Eintreten gefolgt war. Natürlich kannten sie dieser Tage nur ein Thema: den verheerenden Angriff der Puderquasten. Selbst in der gefühllosen Brust des Gesandten hatte sich etwas geregt, als ihm die Nachricht zum ersten Mal zu Ohren gekommen war. Thorwal in Flammen – nur einen Stein konnte das kaltlassen. Aber es war längst nicht mehr sein Leben, und er hatte anderes zu bedenken.
Zum Beispiel, wie es nach Nordeggs offensichtlichem Versagen weitergehen sollte.
Nebenbei, er hätte nicht in der Fremde gesessen und große Reden geschwungen, während seine Heimat brannte. Memmen.
Mit einer entschlossenen Bewegung zog er den Fuß zurück und ließ den Stuhl schwer auf alle vier Beine fallen. Er warf eine Münze auf den Tisch, stand auf und ging mit langen Schritten zur Tür. Nur wenige beachteten ihn; die Schankmagd atmete auf, einige Gäste warfen ihm beiläufige Blicke zu. Die Thorwaler waren so sehr in ihre erhitzten Worte vertieft, dass sie ihn nicht einmal bemerkten. Es war gut so, dachte er bei sich. Zwar war er dazu übergegangen, in Gegenwart seiner früheren Landsleute seine Hautbilder bedeckt zu halten und sich als Mittelreicher auszugeben, aber die Möglichkeit, erkannt zu werden, bestand immer noch. Und er schätzte es nicht, Zeugen beseitigen zu müssen.
Einmal sicher auf der Straße, wandte er sich in Richtung seines Quartiers. Ein weiterer nichtssagender Ort. Im Dienste seines Herrn hatte er gelernt, unsichtbar zu sein.
Selbst in einer gewaltigen Stadt wie Gareth kehrte mit fortschreitender Stunde Ruhe ein. Still waren in diesem Winkel der Reichsstadt die Gassen, alle Fenster dunkel. Über der weithin sichtbaren Kuppel des Praiostempels stand das volle Madamal. Schnelle Wolken zogen, windgetriebene weiße Segel, Ungetüme, Riesenvögel flatterten in zerrissenen Fetzen vor der hellen Scheibe vorüber. Mal hüllten sie die Stadt in Finsternis, mal ergoss sich klares Licht weithin über die Dächer, auf denen die Wolkenschatten tanzten. Um die Ecke pfiff der Wind; auf manchem Giebel knarrte eine rostige Wetterfahne. Wasserspeier reckten ihre Köpfe vom Stockwerk in die Gasse. Im schnellen Wechsel des Lichtes schien es, als ob sie augenblicklich größer und lebendig würden. Züngelte dort der schwarze Wurm nicht? Hob den Schlangenleib, sträubte den Kamm und sperrte den Rachen? Doch schon war es wieder finster.
Zwei krummgetretene Stufen führten zur Tür der Herberge hinauf. Der Gesandte trat über die Schwelle. Ein leichter Modergeruch, wie er unbewohnten Räumen oft anhaftet, schlug ihm entgegen. In der Diele war es kalt wie in einer Berggrotte. Das Licht des Madamals brach sich in einem Fenster aus buntem, undurchsichtigem Glas, unter dem eine bemalte Truhe stand, und ließ die Scheibe wie Edelsteine funkeln. Der Gesandte nahm die hölzerne Stiege ins Obergeschoss mit wenigen Sätzen, eilte in seine Kammer und schloss die Tür nachdrücklich hinter sich.
Das Zimmer war spärlich möbliert - ein altmodischer Schrank stand in der Ecke, groß genug, um zwei ausgewachsenen Männern als Versteck zu dienen; dazu gab es noch eine Kommode, ein Lager, einen kleinen Tisch, auf dem ein Krug mit Wasser und eine Schüssel standen. Der Gesandte hätte einen Spiegel bevorzugt, aber für seine Zwecke sollten diese Mittel ausreichen.
Er füllte die Schüssel mit Wasser. Als die Oberfläche wieder glatt und ruhig war, streckte er eine Hand darüber aus und wisperte uralte Worte der Macht, rief die Kräfte an, die sein Herr ihm verliehen hatte.
Der silbrige Wasserspiegel trübte sich. Graue Schlieren durchzogen die eben noch klare Fläche, verdichteten sich und begannen langsam zu kreisen, bis der Inhalt der Schüssel mehr einer Wolkenballung als Wasser glich.
Der Gesandte zischte einen weiteren Befehl. Unvermittelt riss der graue Strudel auf und gab den Blick frei auf einen Reiter auf einem schwarzen Einhorn mit blutrotem Horn. Er wirkte alt, grausam und gnadenlos. Eines seiner Augen ähnelte einem schwarzen Schacht, durch den man die Unendlichkeit zu sehen glaubte. Doch der Gesandte wusste, dass das Auge nicht leer war: Es war das Auge, durch das sein Herr in die Welt blickte. Innerlich erbebend, neigte er den Kopf.
„Nordegg ist gescheitert“, sagte er.
„Ja.“ Die Stimme war bar jeder Wärme, gefühllos und verächtlich. „Das Geheimnis der Feengrotten bleibt uns verborgen. Doch die Elfe und ihre Helfershelfer müssen etwas dort gefunden haben. Geh nach Waldstein. Finde heraus, was sie planen.“
Gehorsam nickte er, und das Bild verschwand.
Seufzend richtete er sich auf und rieb seinen Nacken. Waldstein. Gut. Er verspürte keinerlei Neigung, so schnell in den Norda zurückzukehren. Was gäbe es dort auch für ihn zu tun? Sie hatte alle Diener, die sie brauchte.
Mitternacht war längst vorbei; er sah auf den hellen Streifen, den das Madamal über den Boden warf. Mit schweren Schritten ging er hinüber zu dem Bett und ließ sich darauf fallen. Er wusste, dass er schlafen musste, aber daran lag ihm noch weniger als an einer Rückkehr in die Eiswüste. Manche Nächte war sein Herr gnädig zu ihm. In anderen… nicht so sehr.
Widerwillig streifte er seine Stiefel ab, entledigte sich seiner Lederweste, seiner Tunika mit den breiten Schmuckkanten. Im Halblicht betrachtete er die Zeichnung der Seeschlange, die sich in grünen und schwarzen Linien um fast die gesamte Länge seines rechten Armes wand. Der Kopf mit den tückischen roten Augen und dem zähnestarrenden Maul ruhte auf seinem Handrücken, während ihre geschuppte Schwanzspitze fast das blaue Bild eines Drakkars mit ausgefahrenen Rudern in einem Wellenband berührte, das auf seiner Schulter prangte. An manchen Stellen durchbrachen alte, helle Narben die Hautbilder.
Erinnerungen und Träume. Das einzige, mit dem man ihn dieser Tage noch foltern konnte.
Er wusste, seit er wieder unter Menschen weilte, wie viel Zeit vergangen war, aber wenn ihn jemand gefragt hätte, so wäre es ihm dennoch unmöglich gewesen zu sagen, wie lange er in der Finsternis zugebracht hatte. Es schien, als wäre er sein Leben lang darin gewandert. Doch er erinnerte sich an eine andere Zeit, eine Zeit vor der Finsternis, eine Zeit, in der er aufrecht seinen Feinden ins Auge geblickt hatte und frei gewesen war, sein eigener Herr. Es waren bittere Erinnerungen, denn sie gemahnten ihn an alles, was er verloren hatte – weggeworfen, aus einem nutzlosen Stolz heraus.
Stolz! Sein Stolz hatte ihn nicht beschützt in den Ewigkeiten der Höllenqualen, zu denen sie ihn verurteilt hatte. Wie lange war ihm daran gelegen gewesen, sich nicht kampflos zu ergeben. Er hatte gekämpft in seinem lachhaften Stolz, zu ihrer Genugtuung, denn es gab ihr nur umso mehr Anlass, ihre Fertigkeiten an ihm zu erproben.
„Deine dumme kleine Revolte war erfolgreich, mein Freund“, hatte sie zu ihm gesagt, ihre Stimme glockenhell und lockend, zugleich unvorstellbare Freuden und ungeahnte Qualen versprechend. „Phileasson hat es geschafft. Ich hoffe, er weiß zu würdigen, was du für ihn auf dich nimmst.“ Fast liebevoll hatte sie die Fesseln berührt, die ihn hielten. „Aber ich vergaß – dein Plan war es, in heldenhaftem Kampf zu fallen.“ Sie zeigte ihr betörendes Lächeln, das ihre goldenen Augen nicht erreichte. „Inzwischen hast du es begriffen, nicht wahr? Für jemanden wie dich gibt keine Heldenhaftigkeit. Es gibt nur Leben und Tod, und du, mein Freund, bist am Leben. Also wirst du, aus eigener Wahl, am Leben bleiben. Warum auch musstest du dich gegen mich stellen? Warum konntest du dein Schicksal nicht einfach hinnehmen? Alles wäre vorüber. Stattdessen…“
„Du musst verrückt sein“, knurrte er hasserfüllt, „wenn du geglaubt hast, ich würde keine Rache nehmen für das, was du getan hast!“
Sie hob ihre eleganten Augenbrauen in gespielter Verwunderung. „Was ich getan habe?“ wiederholte sie. „Wenn ich mich recht erinnere, beruhte unsere Zusammenarbeit auf einer Übereinkunft.“
Er lachte harsch auf.
„Und Rache“, fuhr sie fort. „Von welcher Rache sprichst du? Du und dein o so ehrenhafter Gegner habt mir eine Niederlage zugefügt, das ist wahr. Aber im großen Zusammenhang gesehen bedeutet sie nicht viel. Ich habe eine Spielfigur verloren. Ich werde sie ersetzen.“ Ihre Fingerspitzen streiften federleicht sein Gesicht, und er musste sich zwingen, nicht zurückzuzucken. „Eines Tages“, erklärte sie in ihrer lockenden Stimme, „wirst du ein gutes Werkzeug meines Herrn sein. Doch du hast mich verärgert, mein Freund. Traurig. Ich hätte dir die Herrlichkeit des All-Einen zeigen können, ohne Schmerz, ohne Qual, nur ein sanftes Hinübergleiten. Nun… nun will ich, dass du freiwillig zu mir kommst.“ Sie machte eine ausholende Handbewegung, die den Raum einschloss. „Hier hast du schon einmal erfahren, wie geschickt mein Volk darin ist, Schmerz zuzufügen. Du glaubst, du seiest gewappnet. Lass dir versichert sein: Du hast keine Vorstellung davon, was Schmerz ist. Wie lange du ihn ertragen wirst, liegt ganz bei dir.“
Natürlich hatte sie recht gehabt. In den Äonen der Folter, in denen ihm jedes Zeitgefühl abhanden gekommen war, hatten sie und ihre Knechte ihn genüsslich Stück für Stück gebrochen. Alles, was von ihm blieb, war Hass – Hass auf Pardona, Hass auf Phileasson, auf die Welt, auf sich selbst für seine Dummheit, die Elfenhexe herauszufordern. Hass auf Travia, die, als er in den Stunden, Wochen oder Jahren größter Not nach ihr schrie, mit Schweigen antwortete.
Irgendwann hatte er begriffen, wie unbedeutend alles war, an das er sich so lange geklammert hatte. Weder die Göttin noch sein Stolz konnten ihm helfen, und Erlösung durch den Tod hielten die geschickten Hände und Zaubereien Pardonas und ihrer dämonischen Helfershelfer ihm immer wieder verlockend vor Augen, um sie ihm im letzten Moment zu entziehen. Nein, was allein zählte, war die Macht, sich aus dieser ewigwährenden Qual zu befreien. Und so hatte er seinen Nacken gebeugt, war vor Pardona und ihrem Gott im Staub gekrochen und war reich dafür belohnt worden. Wenn er nun auch ein Sklave war, er nannte die Macht eines Königs sein eigen.
Der Entschlossene nahm sich, was er wollte, oder er verdiente es nicht. Das war immer die Grundlage seines Handelns gewesen. Warum hatte er so lange gebraucht zu erkennen, dass er seinem neuen Herrn durch das Befolgen dieser seiner Lehre schon sein halbes Leben lang gehört hatte?

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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:44

Szene 3: Das erste Opfer
Ort: Himmelsturm / Ryl’Arc
Die Szene beruht auf dem in der Kampagne vorgeschlagenen Konzept, Pardona könne Beorn bei Bedarf „fernsteuern“. Einzusetzen ganz gut im Finale, „Travias Gnade – Freundschaftsdienst“. Die Szene könnte das reale Geschehen darstellen, das vom Helden oder von der Heldin „umgeschrieben“ werden muss.

Ihr Wille überwältigte den seinen so mühelos, dass es nicht einmal ein Kräftemessen genannt werden konnte. Er hörte sich aufwimmern, ein letztes, verzweifeltes Flehen, das weder sie noch die Göttin bewegte. Dann war es vorbei, die Taubheit setzte ein, das inzwischen so wohlbekannte Gefühl, von seinem eigenen Körper abgetrennt zu sein, zugleich zu beobachten wie zu handeln, ihren Willen zu teilen und zugleich davor zurückzuschrecken. Sie genoss diese Art der Folter, die ihn zu ihrem willfährigen Werkzeug machte und ihm seine unbedingte Machtlosigkeit vor Augen hielt.
„Mein armer, stolzer Freund.“ Spottend strichen ihre Finger über seine Wange. „Warum kämpfst du so? Du verlängerst dein Leiden nur. Unterwirf dich dem Herrn, und alles hat ein Ende.“
Er konnte nicht antworten, konnte nicht einmal einen Gedanken formulieren. Lediglich von irgendeinem Punkt tief in ihm stieg ein wortloses Gefühl auf, das ein stummer Schrei des Widerstandes war.
Sie beachtete ihn nicht weiter.
Von ihrem Willen gelenkt, folgte er einem der kristallenen Gänge, über denen die schwarzen Wasser des Eismeeres wogten. Oh, er kannte den Weg, hatte er ihn doch ungezählte Male in beide Richtungen zurückgelegt: in Ketten, nur schwach bei Bewusstsein im Griff der Nachtalben, unter Pardonas Zauber. Er fürchtete, was sie diesmal für ihn ausgekocht hatte.
Nicht die Ritualkammer, sondern der kleine Tempel war bereitet. Licht flackerte aus Dutzenden von Feuerschalen, auf den Altären aufgestellt. Symbole und Inschriften wurden sichtbar und verschwanden wieder in dem Wechselspiel aus Licht und Schatten.
Auf dem mittleren Altar lag die junge Rekkin – Katla, die sie nur die Wildkatze genannt hatten, ein halbes Kind noch. Sie war eine der letzten gewesen, die noch an seiner Seite gestanden hatten, als Pardonas Dämonen den Rabenpass stürmten. Tapferes, vielversprechendes Mädchen.
Sie drehte sich in ihren Fesseln, bis sie sehen konnte, wer die Kammer betreten hatte.
„Beorn“, brachte sie mit heiserer Stimme heraus. Ihr Haar war verfilzt, ihre Haut bleich und von einer Flechte befallen. Wie lange teilte sie seine Gefangenschaft schon? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es mussten Monate oder Jahre sein.
„Beorn, was immer geschehen soll… bitte lass es nicht zu!“
In ihm schrie und tobte es, aber er konnte ihr nicht einmal einen zweiten Blick schenken. Für eine Weile stand er im Anblick der Flammen versunken, während sie ihn ihm, durch ihn Kräfte sammelte.
„Hetmann!“ Katlas raue Stimme schluchzte. „O Swafnir! Kennst du mich überhaupt noch?“
Langsam hob er die Arme und rief Worte in einer Sprache, die er nicht kannte und deren Bedeutung er doch durch ihre Verbindung mit ihm verstand.
„Ich habe es doch gehört“, bemühte sich Katla verzweifelt. „Deine Schreie, als sie dich gefoltert hat. All die Zeit… es schien nie aufzuhören. Du bist stark, Hetmann. Bitte hilf mir. Bitte…“
Die Flammen knisterten und schlugen empor. Sie blendeten ihn, doch er konnte den Blick nicht abwenden. Wie von selbst lag der Opferdolch in seiner Hand. Katla schrie und kämpfte gegen die Fesseln an, die sie hielten, und er versuchte ihr zu helfen, Götter, er versuchte es ja, auch wenn er wusste, wie vergeblich ihrer beider Kampf war.
Seine Stimme wisperte Worte. Seine Hand griff nach Katla, drückte sie unbarmherzig auf den schwarzen Stein des Altars nieder.

„All-Einer
Öffner der Pforten
Der Du in Ketten liegst und doch der Macht Deiner Kerkermeister trotzt
Zerrissener
Dessen verstreute Glieder Deinem einzigen Willen gehorchen
Tausendnamiger
Herr über Deren
Herr über Alveran
Erster
Einziger
Nimm dieses Opfer an
Nimm diese Seele, die sich in Verzweiflung windet
Nimm das Geschenk Deiner getreuen Dienerin.“

Der Dolch fuhr herab, grub sich durch Haut und Fleisch, spaltete Knochen. Katlas Schreie gingen in ein grauenhaftes Kreischen und Gurgeln über. Zuckend klammerte sie sich an ihr rasch erlöschendes Leben, bis ihr Herz mit einem letzten Pulsieren ihre Brust verließ und ihre Seele in ewige Verdammnis gerissen wurde.
Nun, da er sich nichts mehr wünschte als stummes Gehorchen, löste sich der eiserne Griff um Beorns Willen. Mit einem tierischen Heulen brach sein gekettetes Grauen frei. Katlas Blut troff rot und warm von seinen Händen; der schwere, süßliche Geruch erfüllte die Kammer.
Katla, tapferes, unschuldiges Kind.
Seinetwegen lag sie tot auf dem Altar, verdammt für alle Zeiten. Nicht, weil er den Dolch geführt hatte. Weil er einen Handel mit dem Erzbösen geschlossen hatte. Weil er den Handel widerrufen hatte. Weil er nach Rache gedürstet hatte. Weil er ihr Anführer gewesen war.
Sie, wie alle seine Leute, war ihm gefolgt in diesen vermeintlich letzten Kampf, in den er sie geführt hatte. Sie hatten ehrenhaft gehandelt. Er war der Ehrlose, der Verräter. Sein Motiv war nicht Ehre, sondern Vergeltung gewesen. Und sie alle hatten den Preis dafür gezahlt.
Keine Vergebung konnte es für diese Schuld geben. Vor dem schwarzen, blutüberströmten Altar brach Beorn wimmernd zusammen und hoffte, zu vergehen.

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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:45

Szene 4: Das zweite Opfer
Ort und Zeit: Himmelsturm / Ryl’Arc, nachdem Beorn sich dem Namenlosen verschrieben hat.
Funktion wie Szene 3.

„Beorn, bitte lass es nicht zu!“
Ein vertrautes Flehen. Diesmal jedoch war er zum ersten Mal frei, seine Entscheidungen zu treffen, und es war die härteste Prüfung, die sie ihm hätte auferlegen können, seinen neugefundenen Glauben unter Beweis zu stellen.
Warum musste es ausgerechnet Skiöld sein? Er hatte seinen alten Freund und Waffengefährten seit langen Wintern für tot geglaubt, gefallen gegen die Schwarzalben bei ihrer ersten verwünschten Erkundung des Himmelsturms. Hatte sie ihn all die Zeit in ihren Eiskerkern am Leben erhalten, für einen Anlass wie diesen?
Der klägliche Rest Mensch, den die Alben in einen Ritualkreis auf den Boden banden, besaß kaum noch Ähnlichkeit mit dem lebenslustigen Rekker, der immer einen Scherz auf den Lippen gehabt hatte, der mit einem Lachen in jeden Kampf gegangen war, auf dessen Rückhalt Beorn stets hatte zählen können. Seine Gefährtin war Livka gewesen, dachte er, auch sie gefallen wie die anderen. Er hätte Skiöld diesen Tod gewünscht.
Die Alben verließen den Raum, ließen sie allein. Beorn wartete – wartete auf sie, die seine neue Herrin war. In einem Käfig in der Nähe scharrte unruhig, als ahnte sie, was ihr bevorstand, eine riesige räudige Ratte. Über ihren Geräuschen war Skiölds schwache Stimme kaum zu vernehmen, als er erneut sprach.
„Ich flehe dich an. Mach dem ein Ende, bevor es zu spät ist.“
Beorn senkte den Blick. „Ich kann nicht, Skiöld.“
„Seltsam.“ War das ein Schatten von Skiölds altem Witz? „Ich könnte schwören, du seiest frei und bewaffnet.“
Unwillkürlich lachte Beorn auf, ein kurzer, trostloser Laut. „Mich halten stärkere Bande als deine Ketten, mein Freund.“
Nun wieder ernst, musterte Skiöld ihn lange aus trüben Augen. „Ja“, sagte er dann. „Das sehe ich.“ Ein Hustenanfall schüttelte ihn. „In Travias Namen, Beorn, du warst wie ein Bruder für mich. Kannst du mir nicht diesen einen letzten Dienst erweisen?“
Jäh flammte die Wut in Beorn auf. Wie konnte er es wagen, um seinetwillen die falsche Göttin anzurufen, die Rettung und einen sicheren Hafen verhieß und dann, wenn die Not am größten war, ihr Gesicht abwandte?
„Mein altes Leben ist tot!“ spie er. „Bemüh nicht die Vergangenheit, um mir einen Dienst abzufordern! Rettung.“ Er betrachtete die in ihrem Käfig herumhuschende Ratte. „Rettung gibt es für keinen von uns.“
Etwas starb in Skiölds Blick.
„Wenn das so ist“, sagte er leise, „wirst du mir zumindest eine Frage beantworten, die mich seit langem quält?“
„Wenn ich kann.“
Ein rasselnder Atemstoß verließ seine Brust. „Was ist mit Livka? Hat sie wenigstens den Weg zu den Göttern gefunden?“
Ohne Mitleid sah Beorn auf ihn hinunter. „Wer weiß das schon?“ meinte er. „Die Götter lügen.“

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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:50

Szene 5: Heimat
Ort und Zeit: Himmelsturm / Ryl’Arc, reale Zeit unbestimmt. Die Erinnerungen (kursiver Text) stammen aus verschiedenen Jahren – der Überfall auf Porto Paligan samt Geiselnahme Coragon Kugres’ fand ca. im Sommer 1003 BF statt (Rückweg muss mit eingerechnet werden), dann folgt eine kurze Referenz auf die Schlacht am Rabenpass, der Ehekrach (falls das jemanden interessiert) datiert auf ca. ING 1001 BF.
Bei dem erwähnten Brangarr handelt es sich um Brangarr Laefson, Vater von Marada der Wölfin. Dass er sich an der Plünderung von Porto Paligan beteiligte, ist kein offizieller Kanon.
Funktion: Das Entscheidende hier dürfte der Bezug zu Travia sein, namentlich Beorns vermeintlich nicht erhörte Hilferufe. Also in Visionen oder ebenfalls im Finale zu verwenden.

„Ihr müsst der sein, den man den Blender nennt.“
Der Raum war dunkel und kalt. Über sich konnte er das Gewicht des schwarzen Meeres fühlen.
„Die Kunde Eurer Untaten ist weit herumgekommen in Al’Anfa.“
Er fror. Doch die eisige Finsternis dieses Ortes war ihm längst zu tief in die Knochen, in sein Blut gekrochen, als dass er sie noch bewusst wahrnahm.
„Was hast du mir denn da mitgebracht?“ Thurgard musterte den Al’Anfaner mit einem Stirnrunzeln. „Komisches Geschenk.“
Lachend schlang er seinen Arm um ihre Taille. „Der ist nicht für dich“, sagte er. „Da habe ich Besseres.“ Er deutete auf die beladen die Anhöhe heraufstapfenden Knechte und Mägde. „Diesen Sommer waren wir etwas erfolgreicher als sonst, bei Swafnir.“
Thurgards große Augen allein waren die Fahrt wert gewesen. „Das ist die Schatzkammer von Al’Anfa?“ fragte sie angemessen beeindruckt.
„Ein gutes Drittel. Brangarr und Estrid bestanden leider auf ihrem Anteil der Beute.“ Beorn lachte laut und winkte zweien der herumlungernden Knechte. „Bringt diesen Sklavenhalterabschaum in den Schuppen und bindet ihn gut fest“, befahl er mit einer Handbewegung zu Kugres. Natürlich würde der Kerl versuchen, sie zu beschwatzen. Gold, Mitleid, Versprechungen – was eben zog. Aber auf Beorns Hof galt allein sein Wort. Die beiden Knechte zerrten den Al’Anfaner davon.
In allen Einzelheiten mussten die Rekker ihre Einnahme der Sklavenhalterfestung schildern und taten es mit Begeisterung, wussten sie doch, dass sich ihr Ruhm zur gleichen Zeit in ganz Thorwal verbreitete.

Schlaf. Vergessen. Das war es, was er suchte. Sein Körper schmerzte von den kundigen Berührungen seiner Kerkermeister, sein Kopf von den unsichtbaren Nadeln, mit denen sie ihn peinigte. Seine Gedanken waren ein wirres Knäuel ohne Anfang und Ende.
„Denkt daran, Leute: In wenigen Stunden werden wir an Swafnirs Seite weilen!“
Leise aufstöhnend, lehnte er seine Stirn gegen den kalten, glatten Boden. Nein, nicht diese Erinnerung! Sie war zu frisch, zu… wirklich.
„Du weißt, dass ich nicht danach frage, was du auf deinen Fahrten tust.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Thurgard vor ihm, kerzengerade aufgerichtet, ihre blauen Augen dunkel vor Zorn. „Aber was ich nicht dulde“, es war das erste Mal, dass sie ihre Stimme erhob, „ist, auf meinem eigenen Hof zum Gespött gemacht zu werden. Wie kannst du meine Ehre so mit Füßen treten, dass mir dieses Weibsbild ins Gesicht zu feixen wagt?“
„Wie ich höre, hat sie das nur einmal gewagt.“
Ihre Augen schienen Funken zu sprühen. Götter, er konnte sich nicht erinnern, sie jemals mehr begehrt zu haben als in diesem Moment.
„Mir ist es ernst, Beorn Sigridurson.“ Noch immer sprach sie leise, beherrscht. „Wie erniedrigend ist es, dass ich mich überhaupt gezwungen sah, ihr das freche Grinsen aus dem Gesicht zu wischen? Sie ist deine Verantwortung!“
Nachgebend hob er die Hände. „Wie du willst. Gleich morgen in aller Frühe verlässt sie das Haus.“
„Der Schaden ist angerichtet.“ Unwirsch wandte sie sich ab.
Er beobachtete sie, wie sie vor dem horasischen Silberspiegel ihren Zopf löste und sich die Fülle ihres schweren, rotgoldenen Haares über ihre Schultern ergoss.
Manchmal brauchte es Augenblicke wie diese, dachte er, um ihn daran zu erinnern, wie glücklich er mit seinem Traviabund war. Anfangs war es ein Spiel gewesen. Sie waren beide so jung gewesen, so völlig unerfahren; heute überraschte es ihn nicht, dass insbesondere Hengist Feuerhaar ihn, der sich noch keinen Namen gemacht hatte, lieber aus dem Haus geprügelt hätte als dem Bund zuzustimmen, ungeborenes Kind oder nicht. Letztlich hatten sie sich durchgesetzt, und spätestens, nachdem Beorn nun, nach der verhängnisvollen letzten Fahrt gegen die Al’Anfaner, mit kaum sechsundzwanzig Wintern zum Hetmann gewählt worden war, äußerte sich auch der Skalde mehr als zufrieden mit der Wahl seiner Tochter. Doch die lange Vertrautheit forderte ihren Preis. Oft genug war Thurgards Dasein in seinem Leben so selbstverständlich, dass es schal wurde. Und deshalb, ja, gab es andere Frauen, bei denen er gelegen hatte. Er liebte keine von ihnen; die meisten von ihnen waren ohnedies gekaufte Huren aus den Hafenstädten, an denen sie auf ihrer Fahrt anlegten. Thurgard verstand das, hatte es immer verstanden. (Auch wenn er sich eingestehen musste, dass der Gedanke, dass sie in den langen, einsamen Nächten seiner Abwesenheit vielleicht ebenfalls anderweitig Gesellschaft suchte, ihn beinahe in die Walwut trieb…)
Dieses Zwischenspiel mit der Magd nun war nichts gewesen als das Ergebnis seines langen, erzwungenen Aufenthaltes daheim – zuerst das elende Fieber, dann die Gewöhnung an ein Leben mit nur einem Auge – und hatte weniger zu bedeuten als jedes andere. Doch wenn es den Zweck erfüllte, ihn wieder einmal mit der Nase darauf zu stoßen, welchen Fang er mit Thurgard Hengistdottir gemacht hatte, so war es ihm den Ärger wert.
Er trat hinter sie und schlang seine Arme um ihre Hüften. „Es tut mir leid“, sagte er.
„Das hoffe ich.“ Unwillig schüttelte sie ihn ab. „Aber glaub mir, ich bin heute nicht in der Stimmung für Zärtlichkeiten.“
„Ich habe noch meine Hosen an“, zeigte er säuerlich auf.
„Dann behalt sie an.“ Sie ging zum Bett und schlug mit einer heftigen Bewegung die Decken zurück.

Liebe ist, wenn man sich auch mal die Axt hinterherwirft, kam ihm ein Ausspruch in den Sinn. Nur zweifelte er daran, dass Thurgard zur Axt greifen würde. Ihr verfluchter, fast schon legendärer Stolz!
Sie wich seinen Lippen aus, als er versuchte, sie in seine Arme zu ziehen.
„Thurgard“, beharrte er. Er konnte die Wärme ihres Körpers durch ihre Kleidung fühlen.
Sie riss sich mit erschreckender Abruptheit von ihm los. „Es steht dir frei“, schleuderte sie ihm frostig entgegen, „dich zu einer anderen Frau zu legen.“
Jetzt packte ihn allmählich die Wut. Was verlangte sie von ihm – dass er vor ihr katzbuckelte wie ein Liebfelder? Wegen einer vorlauten Magd? Erwartete sie, dass er sich in seinem eigenen Haus Befehle erteilen ließ?
„Ich will keine andere Frau“, sagte er schroff.
„Tja.“ Sie streifte ihre Schuhe ab und löste die Brustspangen und den Gürtel, die ihr Gewand über der Untertunika hielten. „Dann musst du wohl leiden. Denn von mir bekommst du heute nacht nichts.“
„Du bist mein Weib!“ Ungeduldig fasste er sie bei den Schultern.
Zur Axt griff sie nicht, doch ihr Fausthieb war Antwort genug. Beorn taumelte zwei Schritte zurück, blinzelte überrascht – und außer sich. Mit seiner Beherrschung war es vorbei.
Er packte sie bei den Handgelenken und drückte sie, gegen ihren erbitterten, aber stummen Widerstand, auf das Bett nieder. „Verweigern willst du dich mir?“ fauchte er, während sie vergeblich gegen ihn ankämpfte. „Das werden wir sehen.“
Doch sie war Thurgard Hengistdottir und ihr Stolz ungebrochen. „Dann zwing mich, wenn du willst“, sagte sie kalt. „Ich hoffe, du genießt es. Denn du verkaufst deine Ehre und unseren Traviabund sehr billig.“
Ihre Worte waren wie ein Kübel voll Eiswasser. Für einen Augenblick, der eine Ewigkeit sein konnte, verharrten sie so, er, der sie niederhielt, und sie, die doch die Stärkere war.
Dann, mit einem Fluch, richtete er sich auf, ließ sie los. Ohne sich umzublicken, stürmte er aus der Kammer und warf die Tür hinter sich zu.

Hilflos scharrten seine Fingernägel über den eisigen Steinboden seines Gefängnisses. Ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Kehle, rasch erstickt.
„Travia, Göttin. Vielleicht habe ich nicht immer nach deinen Geboten gehandelt. Aber bring mich zurück zu den meinen, und ich gebe dir mein Wort, dass ich dir einen Tempel errichten werde, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.“ Er schloss sein Auge gegen die Finsternis, gegen die unaufhaltsame Flut aus Tränen, die nur darauf lauerte, sich Bahn zu brechen. „O Göttin, hilf mir!“

Die letzte Hjaldingerin
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Beitrag von Die letzte Hjaldingerin » 04.02.2014, 05:54

Bonus! Zwei Fragmente aus der Beorn-Saga, gedichtet von Thorn Beornson, dem hauseigenen Skalden der Ottajasko. (Dank an Gun-Britt Tödter für diesen Charakter.) Ich gehe einfach mal davon aus, dass Shaya nach dem Ende der Simyala-Trilogie Beorns Familie über die Geschehnisse informiert und Thorn somit die Saga in Gänze entwerfen kann.
Zeit und Ort also erst nach Abschluss der Kampagne, aber vielleicht haben die Helden Verbindungen nach Thorwal und wollen der Beorns-Ottajasko selbst Bericht erstatten? Oder sie hören die Saga, in der sie natürlich erwähnt werden, bei einem späteren Thorwal-Besuch.


Tollkühn wagte er und spottvoll,
dem Feind zur Furcht, dem Freund zum Trotz,
das Zeichen Hranngars zu führen
im Schilde, im Felde, zur See,
höhnend zu fordern die Schlange.

---

Friedlos war er, nicht zurück mehr
Konnt’ er über jene Schwelle,
Welche zwischen Schuld und Unschuld
Scharf wie eines Messers Schneide
Sich versteckt im Pfad der Menschen,
Und die viele erst gewahren,
Wenn sie hinter ihnen aufblitzt.

Ich hoffe, die Texte sind zumindest in Auswahl für den einen oder anderen hilfreich. Viel Spaß! :)
Clarissa

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Beitrag von phil » 10.02.2014, 15:28

Hallo Clarissa,

vielen Dank für die Texte, das ist ja schon eine wahre Goldgrube :-)! Ich denke, gerade fürs Finale bietet sich einiges davon an - oder natürlich für Visionen oder Prophezeiungen im Lauf der Kampagne.
Deinen ersten Post im Thread habe ich editiert und ein Inhaltsverzeichnis erstellt.

Lieben Gruß
Philipp

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